16.01.12
Der Irrtum von der Unvereinbarkeit von Religion und Politik 

Auf dem Neujahrsempfang des Bistums Essen bestand Bundestagspräsident Lammert darauf, dass Religion und Politik im Grund unvereinbare Weltanschauungen bedienten, da, so Lammert, der prinzipielle Unterschied darin bestünde, dass Politik von Interessen handle während es bei der Religion um Wahrheiten ginge. Und weil Wahrheiten letztlich nicht abstimmungsfähig und umgekehrt Interessen nicht wahrheitsfähig wären, warnte Lammert davor, religiöse Überzeugungen zu politisieren. 

Im Grunde sitzt Lammert hier demselben Irrtum auf, dem die meisten Menschen der heutigen abendländischen Kultur aufsitzen, nämlich der Vorstellung, Religion und Politik würden automatisch in religionsfundamentalistische Verhältnisse führen. Damit jedoch stellt er die Ursache-Wirkungsverhältnisse auf den Kopf, weil religiösen Überzeugungen ja gerade keine menschlichen Interessen sondern göttliche Wahrheiten zugrunde liegen sollen, die, wenn und indem sie handlungsleitend für das Zusammenleben der Menschen werden, gerade davor bewahren, dass menschliche Interessen verabsolutiert werden. Umgekehrt wird vergessen oder übersehen, dass menschliche Interessen nur dort zu handlungstragenden Parametern in der Religion werden, wo Letztere aufgrund von irrtümlich geglaubten Gotteserfahrungen das Potenzial dafür liefert. 

Wo hingegen einerseits die Religion nicht menschliche, sondern göttliche Wahrheit in den Mittelpunkt stellt und gleichzeitig das Primärinteresse des Menschen jene Gotteswahrheiten sind, die alleine Lebensfähigkeit versprechen, verschmelzen beide Anschauungen zu Lebensperspektiven, welche den Lebens- und Beziehungsprozess des Menschen zwar aus unterschiedlichen Blickwinkeln, aber unter gleichen inhaltlichen Interessen betrachten, nämlich wie Jesus in allen Lebensan-gelegenheiten Gott mit ins Boot zu nehmen im Bewusstsein, dass dann, und nur dann, das Leben für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft von Menschen im Frieden und in gegenseitiger Rücksicht und Wertschätzung geprägt ist. 

Dies wird nicht verhindern, dass immer wieder Interessenskonflikte auftauchen werden – sie sind in gewissem Sinn Spiegelbild der Vielfalt des Lebens –, aber es hilft verhindern, dass daraus Lebenskonflikte entstehen, die zu Unfrieden führen und am Ende in Krieg und Verderben enden. Da beide, Religion und Politik, Teil der menschlichen Natur sind - Religion als bewusstseinssteuernde Sinnfrage und Politik als Ausdruck des Gemeinschaftswesens der Menschen - können und dürfen sie nicht als voneinander unabhängige Entitäten betrachtet werden, da sie so die Gesamtheit des Menschen aus Leib, Seele und Geist zerstören. Die Unfähigkeit des heutigen abendländischen Menschen, im Einklang mit der Natur zu stehen oder materielle und spirituelle Interessen zu vereinen, zeugt von dieser Zerrissenheit des Menschen, welche ihn nicht nur als Einzelwesen sondern auch als Art zum Aussterben verdammt.

 

zurück