Wettbewerb – die widernatürliche Selbstzerfleischung des Menschen (update 17. April 2012)

Nicht erst seit den Bestsellern des Evolutionsmediziners Joachim Bauer „Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren“ und „Das kooperative Gen: Evolution als kreativer Prozess“ deutet eine ganze Menge darauf hin, dass der Darwinismus des ‚survival of the fittest’ – der in zahllosen (Fehl-)Übersetzungen die Vorstellungen der Naturwissenschaftler des 20. Jhrts. prägte – nur unter ganz bestimmten Randbedingungen zutrifft. Jüngste Forschungen haben ergeben, dass die entscheidene Voraussetzung des ‚survival of the fittest‘ der Konkurrenzdruck sein dürfte. So wurde beispielsweise bei Bonobos-Affen mittlerweile nachgewiesen, dass der mangelnde Konkurrenzdruck durch die Abwanderung der unmittelbaren Nahrungskonkurrenten dazu führte, dass diese Affen ihr Aggression fast völlig verloren. Im Gegensatz zu ihren nächsten Verwandten, den Schimpansen, sind Bonobos extrem friedlich. Die Männchen kämpfen fast nie um eine Vormachtstellung und bitten ihre Weibchen sogar um Erlaubnis beim recht häufigen Sex. Aggression ist quasi tabu unter den Mitgliedern einer Gruppe. Sie ist, so der Biologe Brian Hare von der Duke-University, ein viel zu kostspieliges Verhalten, da unter solchen Bedingungen die natürliche Auslese nicht kämpferische Eigenschaften, sondern friedliche Charaktermerkmale erzeuge. Er vermutet, dass einige wilde Tierarten im Umkreis menschlicher Siedlungen mittlerweile von alleine eine friedliche Seite ausbilden. Denn das erhöht ihre Chancen, in der Nachbarschaft des Menschen zu überleben – wie einst auch beim Wolf (GEO 04/2012, S. 150).

Dies wirft u.a. ein bezeichnendes Licht auf die Wirtschaftsform des Kapitalismus. Sie lebt, steht und fällt mit der Ausbeutungsdoktrin eines gnadenlosem Wettbewerbs (engl. ratrace), der von ständigen Wachstums- zwängen, skrupellosem Durchsetzungswillen und der bewussten Ausbeutung und Instrumentalisierung menschlicher Triebstrukturen (Gier, Neid, Missgunst, Schlaraffia usw.) gesteuert wird. Wirtschaftsformen ohne diese Eigenschaften, das scheint das Tiermodell zu beweisen, führen automatisch in eine solidarisch-friedliche Wirtschafts- und Gesellschaftsform. Das scheinen auch die politischen und wirtschaftlichen Trendsetter zu wissen, kurbeln sie den Wettbewerbsdruck doch umso mehr an, um immer mehr Abhängigkeiten zu schaffen, was programmgemäß zu Unfrieden und Aggression führt – einer Aggression, die ihrerseits wiederum notwendig ist, um den Wettbewerb mit all seinen ausbeuterischen Folgen aufrecht zu erhalten. In einer Wirtschaftsform ohne Wettbewerb würden die Menschen wahrscheinlich nur höchst irritiert die Köpfe schütteln, wie sich gebildete Menschen unter den Bedingungen einer giergesteuerten Wirtschaftsform selbst zerfleischen.

Was war zuerst: Die Henne oder das Ei? ... ist eine beliebte Fragestellung, die aufzeigt, dass sich vor allem in komplexen systemischen oder evolutionären Strukturen oftmals die tatsächlichen Ursachen von Missständen oder Fehlhandlungen nicht mehr so einfach herauslösen lassen würden. So auch in der Frage, was zuerst war: die Gier oder äußere Zu- und Umstände, welche sie auslösten? Wenn wir einen Blick zurück riskieren in unsere evolutionäre Menschheitsgeschichte, so erkennen wir, dass wir in unserem Unter- bewusstsein Strukturen eingelagert haben, welche die harte Wirklichkeit einer relativ gnadenlosen Umwelt uns aufzwang. So wie traumatische Kriegs- oder Katastrophenereignisse die Psyche des einzelnen Menschen beeinflussen, beeinflussten die unzähligen Gefahren einer grausamen Umwelt auch die Psyche der Spezies Mensch. Beispielsweise am Fluchtverhalten oder an der Scheu wilder Tiere lassen sich diese prägenden Beeinflussungs- parameter der Evolution noch recht deutlich nachzeichnen. Im Gegensatz dazu hat unsere kulturelle Sozialisation uns so weit im Griff, dass die wesentlichen Verhaltensweisen eher kopfgesteuert sind und die Bauchsteuerung nur dann übernimmt, wenn wir überrascht werden oder keine Zeit zum Überlegen haben. Anders sieht es aus bei Angriffen auf unsere geistige Intelligenz. Hier scheinen die Triebkräfte unserer alten Bauchsteuerung uns schneller einen Streich zu spielen, als unserem Kopfdenken lieb sein könnte. Die oftmals völlig unkritische Aufnahme selbst der abstrusesten Ideologien belegt das recht eindeutig.

Der Urgedanke von Wettbewerb und Konkurrenz basiert auf Ideologien, welche letztlich zum Autonomie- und Hegemoniestreben der Neuzeit führten. Während Wettbewerb, beispielsweise im Sport, die Aufgabe hat, den oder die Besten einer bestimmten Sportart herauszufinden, ist es die Aufgabe der Wirtschaft, die natürlichen Bedürfnisse der Menschen auf eine möglichst ausgewogene Art und Weise zu befriedigen. Anders als im Sport geht es hier nicht um Aussonderung zur Ermittlung des Stärksten oder Besten, sondern um möglichst gleichmäßige Verteilung im Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung. Genau diese Voraussetzung aber steht dem Wettbewerbs- gedanken diametral entgegen. Anstelle der alten (christlichen) Vorstellung, dass gegenseitige Akzeptanz im solidarischen Teilen nicht nur die gemeinsame Sache, sondern über diese auch die menschliche Gemeinschaft stärkt, wird nun die These vertreten, dass Konkurrenz die Leistung aller erhöhe, das Geschäft belebe und damit wiederum allen diene. Wo aber der Blick und damit die Verantwortung für das Ganze fehlt, wo nurmehr in Dimensionen von interessenbehaftetem Profit und Wachstum gedacht werden kann, wo der Aktienkurs zum unbestechlichen Maßstab für Erfolg oder Misserfolg wird, da hat der Mensch aufgehört Mensch zu sein, weil sein Menschsein sich nicht nach Aktienkursen, sondern nach der Fähigkeit zur Empathie, Solidarität, Gemeinschaft und Zuwendung bemisst.

Dass eine derartige Übergewichtung, ja Verabsolutierung der Marktfreiheit, ausgehend vom Prinzip der stetigen Auslese, welche hinter jeder Art von Wettbewerb steht, immer auf eine Endlosspirale von Leistung und Befriedigung hinausläuft und damit nur so lange funktionieren kann, bis das jeweils schwächste Glied aufgibt und ein anderer dessen Geschäft übernimmt (management buy-out), wird geflissentlich unter den Teppich marktwirtschaft- licher Logik gekehrt. Denn an den Konsequenzen des Prinzips Wettbewerb führt kein Weg vorbei: Wettbewerb, im Sinne der liberalen Freiheitsideologie, erzeugt und verstärkt Gier, u.a., weil er aufgrund seiner inhärenten Eigenart notwendigerweise auf ein Maximum an Gewinn bzw. Ausbeutung hin angelegt ist. In Folge verschärft Gier den Wettbewerb. So wird rückwirkend neue und noch hemmungslosere Gier erzeugt und die Spirale dreht sich weiter, bis jener Sättigungspunkt erreicht ist, an dem der Wettbewerb oder die Gier keine Nahrung mehr finden, weil entweder alle Mitbewerber aus dem Feld geschlagen sind und/oder die Gier keine Motivatoren mehr findet, die weitere Anreize schaffen. Insofern ist Wettbewerb der Antipode zur christlichen Solidarität, der es nicht in erster Linie um Gewinn, sondern um gemeinschaftlichen Lebenssinn geht.

Ganz deutlich sahen wir diese Zusammenhänge wieder, als die finanzpolitisch durchaus befähigte französische Wirtschaftsministerin, Christine Lagarde, offen das aussprach, was im Prinzip alle ihrer europäischen Kollegen hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Der wirtschaftliche Rüstungswettlauf der Deutschen, ihre alleine an nationalstaatlichen Kriterien (was nicht ihre Schuld alleine ist) ausgerichteten Exportgewinne, ihre einseitige und damit für alle Europäer ungerechte Wettbewerbsverzerrung, mittels der Deutschland im alten imperialistischen Stil letztlich auf Kosten der anderen lebt und von deren Schwäche profitiert usw., all dies könne so nicht weitergehen. Die Antwort ihrer deutschen Politikerkollegen entsprach dann ganz dem hemmungslos kapitalistischen Gierprinzip, an dessen Schraube allerdings alle kapital- wirtschaftlichen Länder mitgedreht hatten. Hatte die deutsche Wirtschaft durch höchst sozial schädigende Einsparungsmaßnahmen – ein Euphemismus für Sozialraubbau bzw. Sozialdumping – in einem bis dato nicht gekannten Ausmaß die Wettbewerbs- schraube weiter aufgedreht, meinen ihre Vertreter nun lapidar, die Franzosen und wer sonst auch immer noch bräuchten doch bloß dasselbe tun, um wieder wettbewerbsfähig zu werden.

Dabei geht es nicht darum, dass der unternehmerische Erfolg per se gebremst zu werden hätte, sondern dahinter steckt eine hinterlistige Augenwischerei, weil es in Wahrheit um den Kern kapitalistischen Wettbewerbsdenkens geht, welcher sich in der alten Volksweisheit verdichtet: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Würden nämlich die Franzosen und in ihrem Sog nach und nach alle anderen Länder dem deutschen Vorbild folgen, müssten die Deutschen ihrerseits wieder entsprechend reagieren und die Wettbewerbsschraube weiter aufdrehen – eine Ausbeutungsspirale, die alleine darauf angelegt ist, die Mitbewerber aus dem Rennen zu werfen, um dann in der Monopolstellung das Wirtschaftsgeschehen zu diktieren.

Es ist nämlich nicht, wie viele Wirtschaftsfachleute uns immer noch glauben machen möchten, das durch niedrige Zinsen geförderte konsumgetriebene Wachstum auf Pump, was erstursächlich die Weltwirtschaft in eine Krise führte, sondern das längst sakralisierte Wachstumscredo, das nach wie vor die politischen wie die wirtschaftlichen Verantwortungsträger herumtreibt. Wer unter Wachstumsprämissen – und das ist Kosteneinsparung um jeden Preis, auch den des sozialen Friedens – nicht mithalten kann oder aus wahl- taktischen Skrupeln nicht mithalten will etc., wird rigoros zerstört. Deutschland versucht seit Jahren über eine gnadenlose Gesundschrumpfungspolitik alla Margaret Thatcher, in der Lohnzurückhaltung und Entlassung zum haupt- sächlichen Handwerkszeug gehören, global wettbewerbsfähig zu werden, will heißen, die wirtschaftlichen Ausscheidungswettkämpfe zu gewinnen, denn nur, wer gewinnt, überlebt. Statt solidarischem Miteinander ist feindliches Gegen- einander die Devise. Das Ergebnis dieser skrupellosen Ausbeutung der Wirtschafts- wie der Sozialpartner gleichermaßen spiegelt sich in der zunehmenden Reichtums-Armut-Schere, wonach das reichste Zehntel in Deutschland über 60 Prozent Vermögensbesitz aufweist, mit immer noch deutlich steigender Tendenz. [1] Allein in Deutschland haben zwischen 2002 und 2007 alle Schichten der Bevölkerung Vermögen verloren – mit Ausnahme des reichsten Zehntels. [2]

Dieser monopolistische Hase-Igel-Wettlauf ist u.a. deswegen so ungerecht, weil er nur über die Zerstörung des Mitbewerbers sein Ziel erreicht, ohne zu kapieren, dass, indem er die Lebensgrundlage anderer zerstört, damit offenen Auges und langfristig die eigene Lebensgrundlage mit zerstört. Dabei war das Prinzip gesunden Wirtschaftens immer das der Beteiligung aller Wirtschaftssubjekte, weil nur in dieser Beteiligung aller Wohlstand für alle geschaffen werden kann. Wohlstand beruht auf dem Prinzip des wechselseitigen Gebens und Nehmens und er trocknet aus, wo eines dieser beiden Grundparameter schwächer wird. Harald Wozniewski hat dies in überragender Deutlichkeit nachgewiesen in seinem Buch "Wie der Nil in der Wüste – Der moderne Feudalismus (=Meudalismus) in Deutschland".

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[1]   Im März 2010 veröffentlichte Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

[2]   Dr. Claus Schäfer, Experte für Vermögensverteilung bei der Hans-Böckler-Stiftung, im Interview auf heute online