Vom Unsinn eines religiösen Traditionsabsolutismus

 

Die öffentliche Debatte in der Frage der Überordnung religiöser Traditionen über Vernunft und Erkenntnis am Beispiel der Rechtmäßigkeit religiöser Beschneidung von Kindern zeigt beispielhaft, warum sich Befürworter wie Gegner einer im Grund genommen rechts- wie vernunftfreien religiösen Tradition – die hier kommentierten Verfasser sind Johannes Röser, Robert Spaemann, R. D. Herzberg, Heribert Prandl, H.M. Heinig – letztlich auf sehr dünnem Eis bewegen: Traditionen, wie religiös sie auch immer verbrämt sein mögen, haben weder um ihrer Tradition noch um irgendwelcher angeblicher göttlichen Offenbarungen oder anderweitig begründeter Heilsmystifikationen willen das Recht auf eine – leider von vielen Teilnehmern der Beschneidungsdiskussion geforderte – Verabsolutierung religiöser Werte und Glaubensformeln. So wenig das Recht auf Meinungsfreiheit verabsolutiert werden kann dergestalt, dass nun jeder über jeden verbal herfallen könnte, so wenig kann hier das Recht auf Religionsfreiheit oder religiöse Autorität in Glaubensangelegenheit darauf pochen, religiöse Traditionen außerhalb jeglicher Vernunft oder außerhalb jeder nichtreligiöser Rechtsauffassungen zu stellen bzw. gegen epistemologisch nachweisbaren Erkenntnisfortschritt zu immunisieren.


Die einzig wahre Sicht, Religion und ihre Riten und Traditionen nicht außerhalb der Vernunft zu stellen, teilt sogar die katholische Kirche in Form ihres höchsten Repräsentanten, war es doch schon seit jeher ein Anliegen Joseph Ratzingers gewesen, Glauben und Vernunft in einer fruchtbaren Verbindung zusammenzuführen. Nicht zufällig zitiert "Die Zeit" in ihrer Buchkritik Papst Benedikts diesbezüglich weitreichende Erkenntnis: "Dass Religion und Vernunft zusammengehören, dass sie sich wechselseitig 'reinigen' und 'heilen' müssen, weil der Glaube sonst fundamentalistisch eng und die Vernunft materialistisch leer wird, [...] ist ein christliches Ethos, das sich die apokalyptische Revolutions-schwärmerei verbietet." (Entnommen aus "Die Zeit" Nr. 18 vom 28. April 2005)

 

Glauben, der der Vernunft widerspricht und eine Lehre, die Ritus und Tradition verabsolutiert, kann keine gemeinsame Basis der Verständigung bieten. Sie kann hier auch deshalb auf keine gegenseitige Verständigung hoffen, weil Glauben ohne Vernunft unweigerlich in die Beliebigkeit von Meinungen führen muss, die dann ihrerseits wieder über eine ebenso zwang- wie krankhafte Apologetik zu verteidigen sind. Nicht nur das: Glauben ohne Vernunft muss zwangsläufig in den Aberglauben führen, denn Aberglaube ist im Prinzip nichts anders als das evolutionäre Instinktverhalten des Geistes.

 

Leider geht es Spaemann nun gerade nicht um die Akzeptanz einer religiösen Entwicklung im Allgemeinen, sondern um die Verneinung der Notwendigkeit just dieses Vernunftschrittes menschlicher Erkenntnisentwicklung, wenn er in seinem Artikel "Der Traum von der Schicksallosigkeit" das Kölner Beschneidungsurteil kritisiert und als gegen die religiöse Identität gerichtet verurteilt. Dabei zeigt seine Kritik im Prinzip nur seine eigene Unkenntnis hinsichtlich des notwendigen Zusammenhangs von religiöser und theologischer Autorität, eine Unkenntnis, die nach 2000 Jahren Religions- manipulation kaum mehr entschuldbar ist. Wenn er also befürchtet: »Das Hintergrund- argument scheint mir zu sein, dass religiöse Erziehung von Kindern überhaupt verschwinden müsse, weil sie die spätere religiöse Selbstbestimmung präjudiziere und beeinträchtige.«, so scheint er sich nicht im klaren darüber zu sein, dass die Vorstellung einer religiösen Erziehung nicht von Haus aus schon gut ist, ebenso wenig wie ihre Abwesenheit bereits an sich schlecht wäre.

 

Hier wird von Spaemann ebenso naiv wie unzulässig etwas verallgemeinert, was weder rechtlicher noch erzieherischer, sondern im Grunde genommen theologischer oder bestenfalls rechtsphilosophischer Natur ist. Es geht nicht um die Absicht, eine religiöse Erziehung von Kindern per se zu verteufeln, sondern um die Jahrtausende alte Gefahr einer religiösen Erziehung, die der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechts und damit den Erkenntnissen des 21. Jhrts. zuwider läuft. Dies betrifft die unsinnigen Riten vieler Naturvölker genauso wie die nicht weniger unsinnigen Traditionen der großen Religionen der Menschheitsgeschichte.


Nicht ein generelles Verunglimpfen religiöser Traditionen ist hier der Auslöser, sondern der Wunsch nach einer vernünftigen Unterscheidung dieser Traditionen, weil nämlich auch religiöse Erziehungsinhalte nicht in einem erkenntnisfreien Raum schweben. So wenig die katholische Kirche hinter die kopernikanische Wende zurück und zur Inquisition all derer schreiten kann, die sie einst aus ihrem Glaubensrahmen hinausdefiniert hatte, und so wenig Kannibalismus ein schützenswertes Recht ist, nur weil irgendein Heilsguru diesen auf eine religiöse Offenbarung oder Tradition zurückführt usw., usw., so wenig kann es per se ein Recht auf die Achtung religiöser Riten, Traditionen oder sakramentaler Handlungen geben, nur weil ihnen der Glaube anhängig ist, durch göttliche Offenbarungen oder ähnlich übernatürliche Geschehnisse ins Leben gerufen worden zu sein. Wie im Leben ganz allgemein und im Rechtswesen im besondern gilt auch hier: Wer ein Recht postuliert, muss dessen normative wie auch seine natürliche Rechtmäßigkeit vor dem Hintergrund von Vernunft ebenso wie von Menschenrechten nachweisen. Allein der Hinweis auf eine religiöse Tradition kann hier nicht genügen, da wir sonst nolens volens Menschenopfer ebenso zu akzeptieren hätten wie die Unantastbarkeit religiöser Sekten oder gefährlicher Ideologien, solange diese nur behaupten, im Namen irgendeiner höheren Macht zu agieren.

 

Da zieht auch der grundsätzlich richtige Hinweis Spaemanns nicht, dass es keine Selbstbestimmung geben könne ohne eine anfängliche Fremdbestimmung, da es in der Frage religiöser Traditionen nicht um Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung, sondern in erster Linie um die erkenntnisbedingte Kompatibilität dieser Traditionen mit einem vernünftigen Humanum geht, eine Notwendigkeit, die Spaemann wohl vor allem deshalb außerhalb jede vernunftorientierte Bewertung stellt, weil er Glaubenspostulate als nicht vernunftkompatibel sieht. Damit aber erklärt er im Prinzip alle Glaubenslehren etc., selbst diejenigen von Sekten und Esoterikzirkeln, als rechtens, nur weil diese in deren Verständnis durch ihre Glaubensnatur dem Verstand und der Vernunft entzogen sind. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Jede Glaubensaussage muss sich, will sie dem Vorwurf des Aberglaubens begegnen, vor dem Hintergrund vernünftiger menschlicher Erkenntnisse rechtfertigen lassen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht – auch wenn die Kirchenführer dagegen seit Jahrtausenden Sturm laufen. Selbst die Urheber der Beschneidung, um die es hier beispielhaft geht, beginnen langsam, ihre schöpfungsbedingte Vernunft ins Spiel zu bringen.

 

Genau aus diesen Gründen heraus ist auch jede Form einer Verabsolutierung von Rechten zu verneinen. Religiöse Verabsolutierung – bei Röser am Beispiel mystisch-ritueller Tradition ins Spiel gebracht – ist u.a. deshalb unsinnig, weil sie jeglichen Erkenntniszuwachs ausschließt. Genauso gut könnten wir dann auf das Beibehalten alter Verkehrsmittel pochen oder im Umkehrschluss Flugzeuge oder moderne Kommunikationsmittel usw. verbieten, weil sie weder den Nachweis göttlicher Installierung aufweisen noch sich ein Hinweis auf sie in irgendeiner der Heiligen Schriften der Menschheit findet. Genau solches impliziert nämlich eine Verabsolutierung religiöser Traditionen, da sie nicht nur das Vorhandensein einer ganz bestimmten Tradition verabsolutiert, sondern auch deren Abwesenheit.


Menschenrechtliche Verabsolutierung – im Röserartikel kommentiert am Beispiel des Selbstbe-stimmungsrechts von Religionsgemeinschaften – ist nicht weniger unsinnig, weil das Recht auf Selbst-bestimmung dem Recht auf Erkenntnisgewinn und dessen jeweilige Umsetzung ebenso untergeordnet ist wie der automatisch damit verbundenen Pflicht, diese Selbstbestimmung ausschließlich im Rahmen geltender Menschenrechte sowie Vernunft und Erkenntnis auszuüben. Wer diese Recht hier ausgehebelt sieht, der verneint die mit Rechten notwendigerweise verbundenen Pflichten.

 

Auch das vom Rechtswissenschaftler H.M. Heinig vorgebrachte Argument einer scheinbaren rechtlichen Güterabwägung – hier körperliche Beeinträchtigung, dort religiöse Identität – schließt die Pflicht zum Erkenntnisgewinn im Abgleich nicht zuletzt mit den religiösen und theologischen Argumenten erneut generell aus. Dann müssten wir im Grunde genommen auch den Zeugen Jehova das Recht zubilligen, selbst bei schwersten Verletzungen keine Bluttransfusionen zu akzeptieren und den Patienten lieber verrecken zu lassen, und wir dürften letzten Endes auch keiner Art von Kinderopferkult o.ä. seine 'religiöse Rechtstradition' in Frage stellen, weil genau diesen Erkenntnisschritt die Befürworter der religiösen Beschneidung ebenso grundsätzlich wie vehement abstreiten.


Im Grunde hat die ganze Angelegenheit nämlich weder mit Interessen bzw. Interessengegensätzen noch mit religiösen oder kulturellen Unterschieden oder Identitäten etc. zu tun, sondern einzig und allein mit Logik und Vernunft. Diesem Primat müssen sich Traditionen und Kulte ebenso beugen wie Wirtschaft oder Politik, denn wo dies nicht geschieht, operieren wir auf der Ebene fundamentalistischer Sekten, die ihre kultischen oder mystischen Glaubensvorstellungen ebenso bewusst wie grundsätzlich außerhalb jede Vernunft stellen, weil sie nur so vor Gegenargumenten sicher sein können.

 

Einen Schritt weiter gedacht, dürften dann beispielsweise nicht einmal Verwandte der durch das Nazireich verfemten Attentäter nach dem Krieg rehabilitiert werden, denn auf der Ebene einer normativ-rechtspositivistischen Überordnung von Tradition oder Offenbarung und deren falsch verstandene, weil für unantastbar erklärte Verabsolutierung, legitimieren sich Urteile allein aus dem Postulat eines – wie auch immer subjektiven, weil geschichtsunabhängigen – religiösen Anspruchs. Weiter entwickelte Erkenntnisse und neue Kenntnisstände spielen vor dieser Sakralisierung von Tradition und Geschichte dann keine Rolle mehr.

 

Dabei kann keine dieser normativen, rechtspositivistischen oder traditionalistischen Sehensweisen, die sich selbst dem erkenntnisorientiert Besseren als dem Feind des Guten noch überordnen zu müssen meinen,  den Anspruch erheben, der Pflicht zur Wahrung der Menschenrechte zu genügen. Wie wenig normatives Recht diesem Anspruch genügt, zeigt die Praxis vor allem in der Frage der Menschenrechte tagtäglich. Ein Umstand, der auch nicht verwundern sollte, wurden die dazugehörigen Normen doch meist von jenen aufgestellt, welchen an der globalen Verwirklichung eben dieser Menschenrechte aus reichlich egozentrischen Gründen nur sehr wenig liegt.

 

Es geht auch nicht, wie häufig suggeriert, um säkulare versus religiöse Rechtsauffassungen oder gar die Vorstellung, die eine Macht gegen die andere ausspielen zu wollen, sondern ausschließlich um vernunftorientiert begründbare Menschen-, Welt- und Gottesbilder, die allesamt nicht in einem rechtsfreien und damit unabhängigen Raum existieren. In dem Moment, wo die Orientierung an der Vernunft wie am Humanum - auch wenn diese immer wieder neu erarbeitet und ihre Erkenntnisse neu erkämpft, erweitert und weiter vertieft werden wollen – zugunsten entweder religiöser Glaubensdogmatik und Mystik oder säkularer Interessen (aus Wirtschaft, Staat, Politik etc.) aufgegeben wird, werden die eigentlichen Menschenrecht aufgegeben, weil diese untrennbar mit Wahrheitssuche und damit Erkenntnisgewinn – nicht zuletzt in der Frage des Schutzes der Menschenrechte und der Mehrung dessen, was dem Menschen als Individuum wie auch der Gemeinschaft der Menschen gut tut verbunden sind. Dann ist es völlig unerheblich, ob eine Beschneidung unter das Strafbarkeitsfaktum einer medizinischen oder einer juristischen Verletzung fällt oder nicht. Sie ist in jedem Fall eine geistige Verletzung, weil sie wider potenziell besseres Wissen und die Pflicht, sich diesem Wissen nicht zu verschließen, durchgeführt wird.

 

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